Husuma

7. September 2012

Was ist offensive Prozessführung?

Meistens muss die böse Post nicht mal kommen: Die bloße theoretische Möglichkeit eines Gerichtsverfahrens sorgt oft dafür, das weite Teile der politischen Landschaft sich lammfrom verhalten. Wo vorher noch poseriges Rumgemackere war, ist ganz schnell Ruhe, wenn die ersten gelben Brief da sind. Dabei können Gerichtsverfahren als Chance gesehen werden.

Der normale Ablauf
Die Tür hinter dem Richterpult öffnet sich. Mit einem Räuspern erhebt sich die Wachmannschaft, drohend jeden anschauend, der sich nicht schnell genug für das Ende des Theaterstücks erhebt. Der Richter kommt umgehend zur Sache: „Im Namen des Volkes erkennt das Gericht folgendes für wahr: Der Angeklagte wird des Landfriedensbruches, begangen am 2.6.2007 in Rostock, für schuldig befunden.“ Auf der ZuschauerInnenbank kommt es zu leisen Pöbeleien. Ein strenger Blick der Staatsanwältin reicht aus, um den zögerlichen Protest verstummen zu lassen. Es dauert nicht einmal eine halbe Stunde, da ist Patrick nur aufgrund von Aussagen der Polizeizeugen verurteilt. Sie widersprachen sich zwar, aber der Richter wischte alle Zweifel einfach beiseite. Zurück bleibt bei den Betroffenen und der Soli-Gruppe ein Gefühl der Hilflosigkeit. Es ist die vierte Verurteilung noch vor der Mittagspause. Und letzte Woche waren es insgesamt acht. Nicht einmal das Veranstalten von Soli-Partys bleibt bei so vielen Verurteilungen eine Option, um die individuellen Folgen der Strafen abzuwenden. Scheinbar ist es schwer, auch nur ein kleines bisschen Sand in die Maschinerie der Urteilsfabrik Gericht zu werfen.

Ist Solidarität Geld einsammeln?
Aktionen und AktivistInnen gibt es relativ viele. Aber einen offensiven Umgang mit der Justiz findet man selten. Solidarität beschränkt sich oft auf Händchen halten und Geld spenden. Aus einer zentralen Verteidigungslinie des Systems ein Kampffeld zu machen, kommt scheinbar kaum jemandem in den Sinn. Zu einschüchternd sind die Säle, zu unerfahren die AktivistInnen. „Keine Aussage!“ wird zwar überall propagiert, aber erklärt wird es selten. Noch seltener wird es trainiert. Und z.B. bei Widerstandsverfahren steht man scheinbar der undurchdringlichen Front aus lügenden PolizistInnen, dies unterstützenden StaatsanwältInnen und trotzdem verurteilenden RichterInnen chancenlos gegenüber.

Anwälte als Rettung?
Hinzu kommen oft die eigenen linken AnwältInnen. Zum einen sind sie kreative, widerständige Angeklagte nicht gewohnt (wo sollen die in einer auf Eliten, Zentralen und Großveranstaltungen ausgerichteten politischen Bewegung auch herkommen?) und zum anderen verstehen auch viele linke AnwältInnen Herrschaftssysteme wie Demokratie und Rechtsstaat als etwas Positives, dass es für eine emanzipatorischen Bewegung lediglich zu verteidigen gilt. Außerdem stehen sie soziokulturell im anderen Lager: Sie haben auf denselben Unis wie RichterInnen und StaatsanwältInnen studiert, sind in denselben Vereinen und beherrschen dieselben gesellschaftlichen Codes, die sie gegenüber der Normalgesellschaft privilegieren. So kommt es, dass die meisten Prozesse gegen politisch aktive Menschen bereits nach nicht einmal einer Stunde im Sinne der Herrschenden erledigt sind.

Mehr HAndlungsspielraum durch Gerichtsprozesse?
Amtsgericht Bad Oldesloe, Frühjahr 2009. Vor Gericht steht ein Aktivist wegen Widerstands. Die Polizeizeugen und der Angeklagte sind alte Bekannte. Auf seiner Homepage berichtet er regelmäßig kritisch über die Einsätze der örtlichen Polizei. Wo es geht, mit Namen und Fotos der BeamtInnen. „Oh, das ist alles nur ein Missverständnis. Das hätten sie doch gleich so ausdrücken können!“ sagt der Richter, nachdem ihm die vorbereitete Beschwerde auf den Tisch geknallt wird. Klar ist es kein Missverständnis. Der Richter wusste genau, was er tat, als er den Antrag abbügelte. Er wusste nur nicht, dass es zum Plan gehört. Beim Staatsanwalt mag es anders ausgesehen haben. Er sorgte nach einem Befangenheitsantrag gegen ihn selbst für schmunzelnde Gesichter, als er um eine Pause bat, um seinen Chef anzurufen und dessen Meinung einzuholen. Die Vorbereitung des Angeklagten und des Publikums waren so gut, dass die Justizangestellten die Einzigen im Saal waren, die nicht wussten, dass die Strafprozessordnung keine Befangenheitsanträge gegen den Staatsanwalt vorsieht. Auch ansonsten verläuft das Theaterstück „Inszenierung von Justiz zur Legitimierung von Herrschaft“ heute etwas anders. Allein schon die Dekoration ist ungewöhnlich. Vom Kronenleuchter hängen Luftballons, die böse dreinblickenden Wachtmeister werden bei jeder Gelegenheit unfreiwillig mit Konfetti und Luftschlangen dekoriert. Es gibt einen Zähler für autoritäre Ausraster und Rechtsbrüche des Staatsanwalts und des Richters. Der Richter ist leicht in Führung. Und auch die durch den Saal hüpfenden Flummies machen sich super. Außerdem scheint es, als sei der Angeklagte der Ankläger. Dieser klagt in jeder Äußerung, mit jedem Antrag die Cops an, Widerstandsverfahren am laufenden Band zu erfinden, um unbequeme Menschen zu kriminalisieren. Außerdem klagt er die Gerichte an, das Spiel mitzuspielen, egal wie dummdreist die Cops lügen würden. Der aktuelle Fall ist für ihn nur ein Beispiel, um die Ungleichheit zwischen „Normalos“ und Cops vor Gericht zu thematisieren. Und alles ohne eine einzige Aussage zur Sache. Eine Woche später wird das Verfahren eingestellt. Selbst das lokale Klatschblatt titelt auf Seite 1: „Soli-Prozess endlich eingestellt“. Das Scheitern der gängigen Kriminalisierungspraxis hinterlässt bleibenden Eindruck. Polizei und AktivistInnen treffen sich eine Woche später erneut bei einer Aktion in der Innenstadt. Gut hörbar ermahnt der Truppführer seine Schläger: „Vorsicht, das ist er!“

Mit dem maximalen Aufwand zur Verurteilung?
Das Beispiel zeigt: Durch offensive Strategien vor Gericht lässt sich effektiv Sand ins Getriebe der Justiz streuen. Selbst wenn der Fall nicht eingestellt wird, bieten sich reichhaltige Möglichkeiten, eine Kritik am Herrschaftsinstrument „Justiz“ in die Öffentlichkeit zu tragen. Ein Beispiel dafür ist der „Boehringer-Prozess“ in Hannover im Frühjahr 2010 gegen die BesetzerInnen einer Tierversuchslaborbaustelle, denen Hausfriedensbruch vorgeworfen wurde. Unter reger Berichterstattung in der Hannoveraner Presse dauerte es 15 Verhandlungstage, bis der Schuldspruch gelang.

Hinter der StPo verschanzen?
Die Strafprozessordnung bietet viel mehr Möglichkeiten für Angeklagte, als die Gerichte ihnen meistens gewähren. Angeklagte ohne AnwältInnen haben zwar das Recht, die Akte zu sehen, Kopien davon zu machen, Zeugen zu laden und Anträge aller Art zu stellen. Nur: ohne den entsprechenden Druck ignorieren viele Gerichte diese Rechte. Um trotzdem das Gelingen einer offensiven Strategie möglich zu machen, müssen verschiedenen Faktoren zusammenkommen. Das soziale und politische Umfeld der Angeklagten muss bereit sein, einen eventuell langen Prozess mitzutragen. Die Angeklagten müssen gut vorbereitet sein. Und sie sind auf ein widerständiges und ebenfalls gut vorbereites Publikum angewiesen, das in der Lage ist, mit den Angeklagten zusammen auch bereits im Vorfeld des Prozesses Druck auf das Gericht aufzubauen. Mit guter Vorbereitung erscheint es durchaus möglich, sowohl Sand im Getriebe des Herrschaftslegitimationsapparats „Justiz“ zu sein, als auch gerade durch das Ausnutzen der sich bietenden Chancen mit widerständigen Prozessen der Justiz und der Polizei ihr Theater auch öffentlich auf die Füße fallen zu lassen.

Erstveröffentlicht in Utopia- Jugendzeitung für eine herrschaftslose und gewaltfreie Gesellschaft, 3.6.2012. https://www.jugendzeitung.net/uberwachung-und-repression/kreative-prozessfuhrung/

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