Jared Diamont ist Umweltschützer. Bevor er Journalist wurde, arbeitete er in einigen Führungspositionen des WWF (World Wildlife Fund). Bei einem Inspektionsbesuch im Ölfeld Kutubu in Papua-Neuguinea fällt ihm angeblich auf, dass die betreibende Firma Chevron die Umwelt in der Umgebung sehr sensibel behandelt. Er befragt Mitarbeiter_innen des Konzerns, warum in Kutubu so viel Geld in eine ökologisch vertretbare Ölförderung investiert werde, anstatt die Ressourcen auszubeuten.
Die Antwort überrascht nur auf den ersten Blick: „Wir haben erkannt, dass in Papua-Neuguinea kein Projekt auf lange Sicht erfolgreich sein kann, wenn man damit die natürlichen Ressourcen nutzen will und sich nicht die Unterstützung der Grundbesitzer und Dorfbewohner gesichert hat. Wenn diese den Eindruck haben, dass ihr Land und ihre Nahrungsmittelproduktion durch Umweltschäden gefährdet sind, würden sie das Projekt stören, und zum Abbruch zwingen. Die Zentralregierung ist nicht in der Lage, solche Störungen durch die Grundbesitzer zu verhindern. Also mussten wir klug vorgehen.” Papua-Neuguinea ist eine dezentrale Demokratie mit schwacher Zentralregierung und wenig Polizei-und Militäreinheiten.
Der Sinn von Regierungen
Das Beispiel macht sehr deutlich, wozu Regierungen und Herrschaft nützlich sind: Sie ermöglichen Einigen, die Folgen einer Entscheidung Anderen aufzudrücken. In diesem konkreten Beispiel geht es um die Entscheidung des Vorstandes des Chevron-Konzerns, an einem bestimmten Ort Öl zu fördern. Der Gewinn aus dem Unternehmen wird bei den Chevron-Aktionären in der westlichen Hemisphäre landen, die negativen Folgen hingegen bleiben bei den lokal Betroffenen in Papua-Neuguinea. Nur weil es keinen durchsetzungsfähigen Polizei-oder Militärapparat gibt, der Chevron von den Folgen seines Handelns isolieren könnte, ist der Konzern gezwungen, auf die Betroffenen Rücksicht zu nehmen. In anderen Gegenden der Welt hingegen, wo es durchsetzungsfähige Regierungen mit starken Polizei-und Militärapparaten gibt, würden Chevrons zerstörerische Praktiken im Zweifelsfalle mit Gewalt gegen protestierende Landesbewohner_Innen durchgesetzt.
Mittel zum Zweck?
Das Wirkungsprinzip von Herrschaft ist es, Umstände zu schaffen, in denen es für eine begrenzte Anzahl Privilegierter möglich wird, die Folgen ihres Handelns auf Andere abzuwälzen. Dies geschieht zum einem durch den Zugriff auf Ressourcen, aber auch um diesen abzusichern. Diesem Paradox entspringt der abstrakte Charakter von Herrschaft. Es geht zum einem um die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen, und gleichzeitig werden diese wieder genutzt, um den bevorzugten Zugriff auf diese abzusichern. Somit verkommt das Mittel zum Zweck strukturell zum Selbstzweck.
Weitere Formen von Herrschaft
Oftmals ist Herrschaft nicht so offensichtlich, da es außer direkter Gewaltanwendung noch andere, teilweise sogar effizientere Methoden gibt, die Folgen einer Handlung auf andere Menschen abzuwälzen und diesen Zustand dauerhaft abzusichern.
Institutionelle Herrschaft
Institutionelle Herrschaft beschreibt ein Gewaltverhältnis, dass auch auf formeller Ebene dauerhaft abgesichert ist. Beispiel: Polizist_Innen dürfen andere Menschen Kraft ihres Amtes schlagen und misshandeln, um diese zu bestimmten Handlun-gen zu zwingen. Dies ist auch gesetzlich und juristisch abgesichert. So werden Opfer von Polizeigewalt regelmäßig von Gerichten zusätzlich wegen Widerstand gegen Vollzugsbeamte bestraft. Weitere Formen von institutioneller Herrschaft stellen die vielen hierarchischen Positionen dar, in die Gesellschaften formell gegliedert sind.
Informelle Herrschaft
Formal sind alle gleich, doch real gibt es bestimmte Personen, die durchsetzungsfähiger sind: Die typische Situation in Demokratie und basisdemokratischen Plena. Bei Verfahren der informellen Herrschaft entscheiden weniger konkrete Gewaltverhältnisse, als vielmehr ideelle Vorteile wie Informationsvorsprung, die Steuerung von Informationsflüssen, Vernetzung und geschickte Absprachen im Vorfeld, wer die Folgen einer Entscheidung ausbaden muss.
Diskursive Herrschaft
Jemand wird zu etwas gezwungen, und findet das im Prinzip auch ok. Ein Fall von diskursiver Herrschaft. Dieser Begriff ist sehr abstrakt und nur schwer fassbar. Im Kern geht es um die Kunst, dafür zu sorgen, dass die Beherrschten ihre Unterprivile-gierung zum einen nicht realisieren, und zum anderen die dem zugrunde liegenden Prinzipien als “gut und wünschenswert” wahrnehmen. Diese Zustimmung zu Herr-schaft wird über den “Diskurs” organisiert. Aus der Summe von Werten, Überzeugun-gen und Meinungen in einer Gesellschaft, die bestimmen, was als “gut und wünsch-enswert” wahrgenommen wird, leitet sich unmerklich die Akzeptanz für Herrschafts-übergriffe ab. Den konkreten Herrschaftsübergriff zu kritisieren, ist fast nicht mehr möglich, ohne auch die dahinter stehenden Normen und Werte zu attackieren.
Herrschaft ist komplex
Oft liegt nicht ein genau zu definierendes Herrschaftsverhältnis vor, sondern mehrere. Vielfach überschneiden sie sich, oder stehen sogar in Widerspruch zueinander. Herr-schaft ist selten personalisierbar, da sie nicht an konkreten Personen hängt, sondern an deren gesellschaftlicher Funktion. Nur das Austauschen eines Führers ändert nichts an den gesellschaftlichen Umständen, die diese Herrschaftsform hervorbrach-ten. Zudem profitiert fast jede Person durch die Verschränkung von Herrschaftsver-hältnissen in irgendeiner Form von der Existenz des Prinzips „Herrschaft“.
Jared Diamont: Profiteur und Akzeptanzbeschaffer
So kann sich Jared Diamont z.B. über das Verhalten der indonesischen Regierung aufregen, und gleichzeitig als Mann von der strukturellen Diskriminierung von Frauen profitieren. Und wenn er die Polizei ruft, kann er als weißer vermögender Journalist sicher sein, dass diese bei gesellschaftlichen Problemen auf seiner Seite stehen wird. Dass der Laptop und das Handy in seiner Tasche nur bezahlbar sind, weil im Kongo Bürgerkrieg um Coltan-Minen herrscht, ist ihm vielleicht sogar überhaupt nicht bewusst. Falls doch, zieht Jared Diamont vielleicht gerade deshalb nicht den nahe liegenden Schluss, alle Herrschaftsformen zu hinterfragen, weil er von wirtschafts- und herrschaftsförmigen Problemlösungsversuchen, wie sie vom WWF propagiert werden, kurzfristig profitieren kann. Vielleicht erwähnt er deshalb die umweltschädlichen und menschenfeindlichen Ölförderungspraktiken Chevrons in Ecuador nicht.
Es geht ja darum, dass Menschen andere Menschen mit leichter oder mit groesserer Gewalt zwingen einer Regel zu folgen, die irgendjemand entschieden hat.
Kommentar by Hunter Namonkre — 14. Dezember 2011 @ 15:11