Husuma

27. Oktober 2007

Anarchie versus Basisdemokratie?

Basisdemokratie und Anarchie werden oft zusammen verwendet, für viele Menschen fühlen sie sich als das selbe an, d.h. die Menschen hängen beidem an. So sind Entscheidungsmethoden der Basisdemokratie in anarchischen Zusammenhängen weit verbreitet – und sie werden auch als Entscheidungsmethode ,der‘ Anarchie propagiert in vielen einschlägigen, sich anarchistisch nennenden Zeitungen, Gruppen und Strömungen, ebenso in Büchern und Broschüren. Doch kann das sein? Von Jörg Bergstedt

Die in der Praxis oft nervig langen Plena, endlosen Debatten und formsteif ausgeführte Konsensabstimmungen sind geradezu das Markenzeichen einer gelebten Anarchie? Die Lustkurve geht zwar bei alledem regelmässig nach unten, aber offenbar muss mensch leiden für das Gute. Eine kritische Reflexion über Basisdemokratie und Anarchie fehlt dagegen fast immer. So bleibt unentdeckt, was These dieses Papieres ist: Basisdemokratie und Anarchie passen nicht zueinandern.

Verknüpft werden sie nur in der Ideologie vieler (leider dominierender) Kreise mit dem A-Label und von denen, die deren Propaganda einfach übernehmen, weil es sich so gut anfühlt und die AnleiterInnen in den ach so horizontalen Plena mit Konsensprinzip das so nett-kuschelig-wohlfühlorientiert darstellen …

These 1: Anarchie und Basisdemokratie passen nicht zueinander
Entgegengesetzt der meist formulierten Positionen und der gelebten Praxis halte ich Basisdemokratie für ein Herrschaftssystem, was Anarchie nicht sein will. Folglich kein Basisdemokratie nicht Teil der Anarchie sein. Das bedarf natürlich einer Begründung.

These 2: Anarchie ist die Abwesenheit kollektiver Entscheidungsfindung
Kollektive Entscheidungsfindung bedeutet, dass innerhalb einer nicht für einen konkreten Zweck entstandenden Runde von Menschen Entscheidungen getroffen werden, die für alle gelten – auch für die, die sie nicht gut finden, die sich an der Entscheidung nicht beteiligt haben, noch nicht da waren (später gekommen, geboren …). Kollektive Entscheidungsfindung ist ein Weg zur Konstruktion eines „Wir“ und einer genormten Verhaltensweise.
Anarchie verträgt sich mit der Konstruktion eines „Wir“ nicht, weil dieses niemals die Vielfalt selbstbestimmter Menschen und ihrer Kooperationen, Gruppen usw. wiederspiegeln kann. Daher kann Anarchie nur dort existieren, wo auf die Konstruktion des Kollektivs als Einheit und die dort hin führende kollektive Entscheidungsfindung verzichtet ist. Alles, was ist, ist die Entscheidung der Menschen und die Kooperation zwischen ihnen ohne Anspruch auf Vertretung anderer oder Schaffung eines überindividuellen „Ichs“ als Kollektivsubjekt.

„These 3: Basisdemokratie ist kollektive Entscheidungsfindung“
Demokratie ist ein System des Treffens von Entscheidungen. Dabei wird zwischen verschiedenen Formen der Demokratie entschieden, die sich hinsichtlich der Methode der Entscheidungsfindung unterscheiden, aber immer den Kern kollektiver Entscheidungsfindung aufweisen. D.h. es wird von einem Gremium oder in einem Abstimmungsgang eine Entscheidung gefüllt mit dem Anspruch, dass diese für alle bzw. fÜr die in der Abstimmung definierten Menschen zu gelten hat – ob die wollen oder nicht. Die Beteiligungsmöglichkeiten der Menschen, auch der betroffenen, sind je nach Form der Demokratie (repräsentative, direkte, Basisdemokratie …) verschieden, in allen aber besteht keine Möglichkeit, sich dem grundsätzlich zu entziehen. Demokratie steht immer für eine Totalität des Anspruchs auf Entscheidung. Ob demokratisch gewählte Regierung, Volksabstimmung der direkten Demokratie oder Plenumsbeschluss im Konsens – das Ergebnis gilt für alle, auch die, die sich nicht beteiligen. Zwar gibt es Abwandlungen, in denen unklar ist, ob tatsächlich der Anspruch auf Zuständigkeit für alle erhoben wird, dann aber wird nicht eine erweiterte Form der Demokratie betrieben, sondern keine mehr. Werden z.B. Entscheidungen aus den zentralen Gremien in kleinere Treffen verlagert, die dann aber auch nur noch für sich entscheiden, so wächst Autonomie – und die ist von Prinzip her nicht mehr demokratisch. Demokratie ist die mehr oder weniger entfaltete Selbstbestimmung des Kollektivs als Kollektiv. Die Selbstbestimmung der Einzelnen für sich und in der Gestaltung der gesellschaftlichen Interaktion ist demgegenüber nicht mehr demokratisch.

Beispiele kollektiver Entscheidungsfindung:
Abstimmungsprozesse aller Art, die in Verbänden, auf Camps usw. Verhalten vereinheitlichen, z.B. Programmabläufe, Ernährungsform, sog. gemeinsame Aktionen und mehr.
Vertretung des Ganzen nach außen, d.h. Pressetexte, -erklärungen, -kontakte im Namen eines Verbandes, einer Gruppe oder eines Camps, Vertretung gegenüber Behörden, EigentümerInnen usw.

These 4: Anarchie ist die Abwesenheit von Kollektivität

Ob Regierung, Parlament, Vorstand oder Plenum – immer beziehen sich diese Gremien auf eine Kollektivität, d.h. eine Menge von Menschen, die als Ganzen entscheidet und für alle Regeln und Normen festlegt. Das macht von der Logik her nur Sinn, wenn auch erwartet wird, dass die aufgestellten Regeln und Normen eine Wirkung haben, d.h. befolgt werden oder im Zweifelsfall auch durchgesetzt werden können.

These 5: Rätemodelle sind Stellvertretung
Neben der Basisdemokratie, zum Teil auch verbunden mit basisdemokratischen Elementen, werden Rätesysteme als Möglichkeit für herrschaftsfreies Entscheiden vorgeschlagen. In den Räten soll ein imparatives Mandat herrschen, d.h. die dort Handelnden sind an die Beschlüsse derer, die sie vertreten, gebunden. Ob das funktionieren kann, ist die eine Frage, denn der Rückfluss an Informationen aus dem Geschehen in den Räten entscheidet darüber, ob die Vertretenen ihre Vorgaben erfüllt sehen. Steuerung über Information ist aber ein Mittel der Herrschaft und wirkt der tatsächlichen Möglichkeit imparativer Mandatierung entgegen. Zum zweiten aber ist schon in der Logik auch des imparativen Mandats die Stellvertretung integriert. Auch das ständige Recht, die Person jederzeit abzuberufen, hebelt Stellvertretung nicht aus, sondern begrenzt sie nur in der zeitlichen Dimension. Die Privilegierung in der Phase, in der die Stellvertretung andauert, ist dennoch vorhanden und sichert sich selbst über die Steuerung der Informationsflüsse ab.

Beispiele:
Auf verschiedenen sog. Delegiertentreffen in sozialen Bewegungen (z.B. Deli-Strukturen in der Anti-Atom-Bewegung) sind Kriterien für den Delegiertenstatus gar nicht festgelegt. Dennoch wird mit der Zuweisung dieses Status über die Anwesenheitsberechtigung von Menschen entschieden.
Gleichzeitig werden Informationen aus den Treffen gefiltert nach außen gegeben, d.h. eine unabhängige Kontrolle der Tätigkeit von Delegierten ist für die von ihnen Vertretenen gar nicht möglich. Die Macht der Informationshierarchie wirkt.

These 6: Anarchie ist die Abwesenheit von Stellvertretung
Herrschaftsfreiheit besteht nur dort, wo gar keine Stellvertretung besteht, d.h. alle Menschen nur für sich reden und direkte Vereinbarungen schließen. Das schließt komplexe Absprachevorgänge nicht aus – jedoch handeln auch in komplexen bzw. überregionalen Kooperationen die Tätigen nie im Namen anderer, sondern für sich. Im günstigsten Fall stellen sie ständig Transparenz her, so dass andere, die betroffen sind, sich wiederum direkt einmischen können. Sie können dabei Einzelne ansprechen, sie als Kontaktpersonen nutzen, aber niemals werden diese zu ihren VertreterInnen.

These 7: Basisdemokratie braucht Innen und Außen
Jede demokratische Abstimmung braucht eine Definition darüber, wer mitstimmen darf oder nicht. Die Übergänge können zwar fließend sein, aber nicht gänzlich verschwinden, weil jede Versammlung, die als Kollektivsubjekt handelt, zumindest hinsichtlich der Frage, wer davon informiert bzw. eingeladen wird und somit auch nur mitstimmen kann, einer Festlegung bedarf. Damit entsteht immer ein „Innen“ und „Außen“, also die Dazugehörenden und die nicht Dazugehörenden. In der Praxis basisdemokratischer Bewegungen wird zwar oft intern die Gleichberechtigung erhöht, aber es entsteht regelmäßig eine sehr deutliche Konstruktion von Innen und Außen. Es gibt nicht nur eine bestimmte Logik der Einladung zur Versammlung, sondern ständig sogar die konkrete Ausgrenzung von als nicht zugehörig definierten Personen – also über das Privileg des Eingeladenseins hinausgehend.

Beispiele:
Auf einem Camp beschwerte sich ein Anwohner über die Lautstärke. Er war dafür (basisdemokratisch betrachtet völlig korrekt) zum Plenum gekommen und trug sein Anliegen vor. Er wurde aber als nicht zum Camp dazugehörend definiert und sein Anliegen übergangen. So zeigte sich ein deutliches Innen und Außen – und wer wann wie entschieden hatte, wer dazugehört und wer nicht, was zudem unklar.

Auf einem anderen Camp wurden Nazis ausgeschlossen. In der Folge entwickelte sich eine zum Teil abenteuerliche Praxis am Kontrollpunkt (!) am Eingang, wer als Nazi definiert wurde und wer nicht. Das Aussehen spielte dabei die wichtigste Rolle.

These 8 zu sozialen Räumen: Basisdemokratie schafft Räume mit definierten Aufenthaltsberechtigungen

Der Sinn basisdemokratischer Entscheidung ist, soziale Räume (Orte, Netzwerke, virtuelle Räume, Aktionen, Veranstaltungen …) mit vereinheitlichten Regeln zu schaffen. Diese können nur Einzelpunkte betreffen und grundsätzliche Verhaltensnormen. Sinn der Entscheidungsfindung ist die daraus entstehende Erwartungshaltung, dass die Menschen sich den geschaffenen Bedingungen auch anpassen. Sollte das nicht geschehen, müssten Sanktionen erfolgen oder festgelegt werden.

Innerhalb konkreter Handlungsgruppen (Aktionsgruppe, WG, Betrieb …) sind bezüglich des konkreten Zweckes der Gruppe Entscheidungsfindungen unumgänglich. Die Form, in der diese erfolgt, ist in dieser Betrachtung zweitrangig. Entscheidend ist, dass sie nicht über den eigenen konkreten Wirkungsbereich und auf Nichtanwesende u.Ä. ausgedehnt wird, sondern für die konkret zusammen Handelnden gilt. Plena, Regierungen, Koordinierungskreise, Vorstände usw. entscheiden aber regelmäßig nicht nur für sich, d.h. die Anwesenden, sondern für alle, das Kollektiv aller Menschen, in deren Struktur das Gremium agiert.

These 9 zu sozialen Räumen: Anarchie ist die Abwesenheit von Schranken und Grenzen
Das Festlegen von Bedingungen für den Aufenthalt von Menschen in einem sozialen Raum ist ein Akt der Herrschaft. Es muss dafür privilegierte Kreise oder Gremien geben, die das „Recht“ haben, diese Bedingungen festzulegen und auch durchzusetzen. Anarchisch ist nur der offene Raum, d.h. das Treffen, das Gebäude, der Prozess oder das Projekt, in das alle Menschen frei eintreten können und über Konflikte kommunikative Prozesse ohne jegliche Vorbedingungen ausgetragen werden. Das bedeutet nicht die Abwesenheit von Veränderungsprozessen, sie werden aber immer zwischen Menschen in einem horizontalen Verhältnis miteinander ausgehandelt, nie über Gremien oder aus privilegierten Positionen heraus.

These 10 zu Medien: Basisdemokratie bedeutet Regeln und Entscheidungen in Medien
Am Beispiel von Medien ist der Unterschied gut erkennbar. Basisdemokratie sind Zeitungen, Internetplattformen u.Ä., bei denen die Auswahl der Beiträge, die Gestaltung usw. von den Beteiligten am Projekt entschieden werden. Basisdemokratie ist dabei der Verzicht auf Obrigkeit und Mehrheitsabstimmung. Konsens und gleichberechtigte Beteiligung aller Projektmitglieder an den Entscheidungen prägen das Geschehen.

These 11 zu Medien: Anarchie in Medien bedeutet offene Plattformen und das ExpertInnentum von allen und ihrer Kommunikation
Anarchie bedeutet Herrschaftsfreiheit. In Medien müsste das bedeuten, dass Medien als offene Plattformen organisiert werden, bei denen die Grenzen von Sender und Empfänger aufgelöst werden. Die NutzerInnen des Mediums werden zu gleichberechtigten GestalterInnen. Einige wenige Beispiele aus dem Internet zeigen, wie das in der Wirklichkeit aussehen könnte, z.B. Wikis und Indymedia. Printmedien, freie Radios u.ä. könnten durchaus solche Elemente verwirklichen. Sie tun es aber fast Überall nicht – ein Zeichen dafür, dass es anarchistische Zeitungen gar nicht gibt, auch wenn sich einige so nennen.

Beispiele:
– Ob dieser Text in einer basisdemokratischen Zeitung veröffentlicht wird (anarchistische überregionale Zeitungen gibt es in Deutschland nicht), entscheiden die Redaktionen. Bereits ein Veto reicht bei den meisten, um den Text zu stoppen (Geschah bei GWR und DA).

– Das Projekt „Indymedia“ ist (von den noch vorhandenen Zensurstrukturen abgesehen) ein solches Medium, bei denen MacherInnen und NutzerInnen ähnliche Gestaltungsmöglichkeiten haben. Die sogenannten „Wikis“ im Netz sind Seiten, die von den BetrachterInnen ebenso verändert oder erweitert werden können wie von denen, die eine Internetseite anlegen.

Fazit
Basisdemokratie und Anarchie unterscheiden sich in mehreren grundlegenden Punkte. Herrschaftsfrei ist nur die Abwesenheit kollektiver Entscheidungsfindung, während Basisdemokratie eine Idee ist, die Entscheidungsfindung intern möglichst gleichberechtigt zu organisieren. Jenseits der Kritik auch im Detail an Konsens, Vetorecht, der Einteilung an „Innen“ und „Außen“ usw. ist dieser Unterschied zentral. Basisdemokratie schafft tendenziell eine Vereinheitlichung. Das immer angeführte Argument, das Vetorecht würde gerade die abweichenden Meinungen stärken, wirkt sich anders aus als meist behauptet. Tatsächlich zwingt das zu Annäherungen der Unterschiedlichkeit und Kompromissen. Die Dynamik von Streit und Vielfalt wird verringert stärker sogar als in der Mehrheitsdemokratie, wo Abstimmungsschlachten zwar ebenfalls Einheitlichkeit nach außen schaffen und krasse Dominanzen fördern, aber die Minderheiten bleiben erkennbarer auch für sich selbst als interne Opposition. Basisdemokratie hat die Tendenz, die Unterschiedlichkeit zu verschleiern und das „Wir“ zu stärken.

Eine anarchistische Gesellschaft wird nur entstehen, wenn Stück für Stück kollektive Entscheidungsfindung und ihre Durchsetzung aus der Gesellschaft verdrängt werden. Horizontalität aller Menschen, d.h. gleiche Handlungsmöglichkeiten und die Steuerung von Prozessen über freie Vereinbarung statt Entscheidungsfindung wären das Ziel. Konkrete Projekte wie Medien, alternative Lebensprojekte, Betriebe oder Lernorte von unten haben die Chance, Experimentierflächen zu sein für den Verzicht auf kollektive Regeln, Vorbedingungen oder Entscheidungsfindung.

Mehr Informationen
– Konkrete Methoden: https://www.hierarchnie.de.vu
– Demokratiekritik: https://www.demokratie-total.de.vu
– Versuch einer Zeitung als offener Plattform: https://www.fragend-voran.de.vu
– Herrschaftsfreie Utopien: https://www.herrschaftsfrei.de.vu
– Indymedia als Beispiel einer annÀhernd offenen Medienplattform: https://de.indymedia.org

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