Husuma

1. Oktober 2005

Wahlquark im September 2005


Der Wahlkampf zur Bundestagswahl 2005 führte in Husum zu vielfältigen Interventionen von verschiedenen Seiten in die Normalität. Und ausnahmsweise ist das Ergebnis sogar messbar. Am Ende brach die Wahlbeteiligung um 14 Prozentpunkte ein.

September 2005. Die Bundestagswahl steht an. Im ganzen Land stolpern Menschen über die Pappaufsteller mit grinsenden Gesichtern, die plötzlich aus den betonierten Landschaften emporwachsen. In den Medien wird verzweifelt versucht, der Akzeptanzbeschaffung für Herrschaft mittels eines Ritual namens Wahlen eine Wichtigkeit zu geben. Was keine einfache Aufgabe ist, denn die vermeintlichen Unterschiede zwischen den Parteien sind in den letzten Legislaturperioden so endgültig zusammengeschmolzen, so dass Grüne Kriege führen und Castortransporte durchsetzen, die Linken Sicherheitsgesetze verabschieden und die Sozialdemokratien mit sog. Hartz-Reformen die Armen ärmer und die Reichen reicher machen.

Veränderte Wahlplakate
So nähert sich der Wahlsonntag. Die Menschen der Republik ertragen das Spektakel ein weiteres Mal. Nur in Husum/Nordfriesland macht etwas die WahlkämpferInnen nervös. Seit Beginn des Wahlkampfes werden ihre Plakate mit Aufklebern ergänzt, kommentiert oder verunstaltet. Die Aufkleber unterscheiden sich deutlich von inhaltslosen Vandalismus. Sie tragen Botschaften. Oft handelt es sich um Sprechblasen, die den KandidatInnen Aussagen wie „Wahlen ändern nichts. Nur die Gesichter…“ in den Mund legen. Dazu wurden übergroße Münder, Affen- und Skelettschädel montiert. Das Gefährliche daran: Den herrschaftskritischen Sprüchen kann ausnahmsweise jeder zustimmen…

Verstecktes Theater
Samstag, der 17.9. Vormittags auf dem Husumer Marktplatz. Am Wochenmarkt haben SPD, Grüne, CDU und FDP ihre Stände aufgebaut und versuchen, MarktgängerInnen ihre Werbezettel anzudrehen. Bei einigen jungen Leuten haben sie damit auch Erfolg. Doch der ist nicht von Dauer. Ein weiterer Mensch stellt sich zum Stand. Er hat ein Schild umgehängt, auf dem „Wahl-Werbemüll bitte hier einwerfen. Nehmen Sie ihr Leben selber in die Hand.“ aufgedruckt ist. Den dazu passenden Müllbeutel hat der Aktivist auch dabei. Und schon entsteht ein Gespräch über die herrschaftsstabilisierende Funktionen von Wahlen. Es gelingt, die jungen Leute zu überzeugen, und schon füllen sich die Müllbeutel mit Hochglanzpropaganda. Und die erste Wirkung wird sichtbar. Das versteckte Theater macht die ach so gewaltfreien und rechtsstaatlichen MitgliederInnen des grünen Kreisverbandes so nervös, dass sie diese Grundsätze beerdigen und zur Selbsthilfe greifen. Sie reißen dem Aktivisten an ihrem Stand das Schild weg, und rauben mit Gewalt seinen Müllbeutel, um „ihre“ Propaganda wieder an sich zu nehmen. Das Rumgeschubse und Gedrängle der Grünen macht letztlich jede Ansprache und Werbung von PassantInnen unmöglich. Doch auch den anderen Parteien ergeht es nicht anders. Immer mehr PassantInnen beschließen, die Hochglanzzettel direkt in den Müll zu werfen. Passend dazu haben mittlerweile auch die Mülleimer rund um den Marktplatz einen Aufkleber, der dazu auffordert, genau dies zu tun. Mit der Situation sichtlich überfordert packen alle Parteien um Punkt 12 ihre Stände ein und gehen.

Vielfalt in der Einfalt der Wahlwerbung

Die Woche geht weiter, die Plakatveränderungen gehen weiter. Sehr frustrierend für die Parteien, denn kaum sind ihre Plakate wieder sauber, tauchen neue Veränderungen auf. Die Veränderungen wandeln sich. Nun sind statt einer fundamentalen Kritik Kommentierungen vorherrschend. Anscheinend von anderen Aktivisten wurden Überkleber wie „Das Bundespropagandaministerium informiert: Wahlen verursachen Abhängigkeiten. Wer das Wählen aufgibt, erhöht die Chance auf selbstbestimmtes Leben!“ Ebenfalls wurden die großformatigen Stellflächen verändert. So stand Schröder für „Kraftvoll Mutig Machtgeil“, Westerwelle verkündete: „Ja…. Maloche!“ und Merkel freute sich über: „Das Schöne an Wahlen: Es kommt immer eine Regierung dabei heraus!“. Unter „63% sind mit der Außenpolitik von Joschka Fischer zufrieden“ erschien: „Das ist ja das Schlimme!“

Kommunikationsquerilla

Ein anderer Zweig der Plakat-Manipulationen ist nur noch auf den zweiten Blick als Veränderung erkennbar, denn sie nutzen geschickt die graphischen Layout-Vorgaben der Originale. Besonders hart erwischt es dabei die FDP. Ganz im Trend verändert die Partei ihre Plakate mit Hinblick auf den näher rückenden Wahlsonntag selbst, um neue „Hingucker“ zu schaffen. Doch diese Hingucker „Mehr Arbeit-Mehr Lohn“ wandeln sich über Nacht in „Weniger Lohn-Mehr Gewinn!“ und „Weniger Soziales-Mehr Gewinn!“ Zeitgleich taucht ein angebliches Schreiben der Jungen Liberalen (Julis) in den Briefkästen der Stadt auf. Es verkündet, dass den Julis die Kampagne der Liberalen zu lasch und unehrlich gewesen sei, und sie deshalb mit Plakatveränderungen die wahren Inhalte der FDP publik machen wollten. Die Julis dementieren zwar nie, doch Art und Stil des Schreibens lassen nicht unbedingt auf eine originale Urheberschaft der Julis schließen.

Kreativsubversiv gegen Nazis

Die NPD gibt sich ähnlich ambivalent. In den Briefkästen der Stadt findet sich ein scheinbar von der NPD herausgegebenes Schreiben, dass davon abrät, die NPD zu wählen, da diese ohnehin chancenlos sei. Viel besser sei es, durch die Stimmenabgabe die autoritären Tendenzen in den anderen Parteien zu stärken. So würden SPD und CDU eine wunderbare Ausländerpolitik machen, die fast immer politisch Verfolgten ihr Asylrecht vorenthält, die Grünen hätten mittlerweile eine gesunde Meinung zu Polizei und Militär, und Teile der Linkspartei würden Folter und „bessere“ Polizeigesetze befürworten. Auch dieses Schreiben wird nie dementiert. Weder von der NPD, noch von einer anderen Partei.

Wahlkampf mit harten Bandagen

Doch die Nervosität scheint groß zu sein. Denn es tauchen neue Veränderungen auf den Plakaten der CDU auf. Es sind einfache bedruckte A4-Blätter, auf denen ohne jeglichen Satz in New-Times-Roman z.B. „Wenn CDU, dann deutsche Soldaten im Irak“, „Wenn CDU, dann 100% Atomkraft“ oder„Wenn CDU, dann amerikanisches Ghetto!“ verkündet wird. Der anti-amerikanische und deutsch-nationalistische Unterton macht es wahrscheinlich, dass sich hier tatsächlich Sympathisanten der SPD an unkonventionellen Werbemethoden versuchten. Die militanten Anhänger der Husumer SPD schrecken auch nicht vor Sachbeschädigung zurück. So werden die großen CDU-Plakate an der Flensburger Chaussee (mit Veränderungen) durch Umwerfen und Zertreten eines Nachts zerstört. Die benachbarten SPD-Ständer überstehen die Nacht unbeschadet. Auch kommt es zu einer nächtlichen Aktion an der CDU-Zentrale. Die Schlösser werden zerstört, und mit Graffitti Sprüche wie „CDU-frauenfeindlich“ oder „CDU-reaktinär“ auf die Wände und Fenster gemalt.

Stinkflüssigkeit in SPD-Geschäftsstelle
Das Revanche-Foul lässt nicht lange auf sich warten. Auf der SPD-Zentrale verewigen sich CDU-Sympatisanten mit Sprüchen wie „Spräen können wir auch!“, „Sozial ist, was Arbeit schafft!“ und „Scheiß SPD!“ Sie legen sogar noch eine Schippe drauf: Laut sh:z sind nicht nur die Schlösser beschädigt, sondern es ist irgendwie gelungen, im Inneren der Zentrale für einen unausstehlichen Gestank zu sorgen. Und das ausgerechnet an dem Tag, an dem Innenminister Stegner (SPD) zum Wahlkampfbesuch vorbeischaut…

„Sicherheit“ als mediale Inszenierung
Als Konsequenz verkündet die Polizei, der Staatsschutz habe die Ermittlungen übernommen, und die Parteizentralen seien ab sofort besonders bewacht. Pustekuchen, ergeben die Stichproben durch Husumer BürgerrechtlerInnen. Vor den Parteizentralen ist davon nichts zu merken. Die Polizei befriedigt über Pressemitteilungen lediglich Law-and-Order-Fantasien. Die Suggestion von Sicherheit reicht völlig aus.

Was bringt’s?
Das die Parteien nicht zu Unrecht nervös waren, zeigt sich erst am Wahlabend. In Husum bricht die Wahlbeteiligung völlig gegen den bundesweiten, regionalen und lokalen Trend um 14 Prozentpunkte ein. Nirgends in der Republik gibt es bei der Bundestagswahl 2005 einen so deutlichen Anstieg der NichtwählerInnen.

Die Aktionsserie in Husum 2005 ist aus mindestens zwei Gründen etwas besonderes. Normaler weise beschränkt sich politisch Protest auf die „Verhinderung des Schlimmeren Übels“. Inhalte seien zu komplex, nicht vermittelbar, und so wird nicht die Frage nach einer Welt ohne Herrschaft aufgeworfen, sondern angebliche AtomkraftgegnerInnen „erkämpfen“ einen Atomkonsens, der nochmal die selbe Menge Atommüllproduziert und eine Bestandsgarantie für Atomschleudern mit einer Laufzeit von nochmal 30 Jahren darstellt. Das es anders geht, das komplexe Inhalte vermittelbar und im Diskurs platzierbar sind, zeigt die Aktionsserie. Und letztlich muss die Diskussionen über Utopien ohne Herrschafts geführt werden, wenn sich etwas ändern soll. Gesellschaftlicher Wandel entsteht, wenn einerseits das bestehende System nachhaltige Legitimationsverluste erlitten hat, und anderseits den Betroffenen eine Alternative als glaubwürdig erscheint. Und wie soll dieser Zsutand je erreicht werden, wenn nicht über „das große Ganze“ gesprochen wird? Zumal die alljährlichen Herrschaftsakzeptanzbeschaffungsfestspiele doch eine wunderbare Gelegenheit dazu darstellen?

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